Der Zeitraum zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einer ausgeprägten Regionalisierung und Dezentralisierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller wie insbesondere literarischer Einrichtungen und Praktiken. Sowohl den ehemaligen Territorien des Imperium, in denen sich unabhängige politische Entitäten bildeten, als auch den niemals römisch beherrschten Gebieten ist gemein, dass sie die lateinische Sprache als Lingua franca wie auch als Kulturspeicher beibehielten. Die umfassende Diffusion lateinischer Literatur in Europa, die nach wie vor das antike Erbe des Römischen Reiches in unterschiedlichen Erscheinungsformen präsent hielt und ebenso Einzug in den von Byzanz beeinflussten griechischsprachigen Osten erhielt, belegt die vielfältigen sozio-kulturellen Verflechtungen eines komplexen Kommunikationsraumes. Dieses überaus heterogene Areal wies zwar politische, kulturelle und religiöse Knotenpunkte auf, wie etwa Konstantinopel als Hauptstadt des Oströmischen Reiches oder Rom als Standort des Papsttums. Nichtsdestoweniger war es dezentral ohne übergeordnete (juristische) Instanzen bzw. Institutionen strukturiert, weshalb es sich insbesondere auf kulturelle Interaktionen, allen voran literarischen Austausch verließ. Die lateinische Textproduktion war geprägt von einer wechselseitigen Koexistenz regionaler Innovationen und einer nachwirkenden Persistenz globaler Reminiszenzen, die wesentlich zur Herausbildung der neuen (früh-)mittelalterlichen (Text-)Kultur beigetragen haben. Diese genuinen Transformationen und (Neu-)Bildungen lateinischer Literatur sind nicht allein sprachlich und inhaltlich zu erfassen, sondern spiegeln sich ebenfalls in den materiellen Befunden wider. Erstmals sind zeitnahe Überlieferungen tradiert worden, für deren Durchdringung es eines umfassenden methodischen Instrumentariums bedarf. Daher kann mit Recht von einer eigenständigen „literarhistorischen Epoche“ (M. Fuhrmann) gesprochen werden, die sich wesentlich von der vorherigen Schriftkultur unterscheidet.
Primäres Ziel der Tagung ist es, anhand von konkreten Fallbeispielen die lateinische Literatur des besagten Zeitraumes unter drei Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen: Erstens anhand der überlieferten Textgattungen, ihrer Entwicklungen und Funktionen, zweitens anhand der Interferenz von Regionalität und Globalität und ihren Einflüssen auf die Texte als solche und drittens anhand der sozio-kulturellen Verflechtungen, die über Literatur instituiert worden sind und gleichsam den dezentralisierten Kommunikationsraum geschaffen haben. Alle drei Aspekte sind aufgrund ihrer Komplexität philologisch, paläographisch-kodikologisch wie auch kulturwissenschaftlich zu betrachten. Darüber hinaus sollen die transdisziplinären Ansätze kritisch reflektiert werden, um methodische Zugänge zu den tendenziell schwierigen, teils nur fragmentierte bzw. einseitige Perspektiven wiedergebende Überlieferungen ermitteln zu können. Aufgrund der thematischen Breite wurden renommierte internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus einer Vielzahl an (Teil-)Disziplinen eingeladen. Entsprechend wird die Tagung einen breiten Beitrag zur Erschließung der lateinischen Textkultur einer bislang nur vereinzelt bzw. regional erforschten Epoche einschließlich der Reflexion der dazugehörigen methodischen Verfahren vorlegen. Insbesondere die kulturwissenschaftlichen Verfahren, die rezent im Rahmen von Globalisierungs-, Netzwerk- und Verflechtungskonzepten eine hohe Konjunktur aufweisen, sollen in Bezug auf die lateinische Literatur und ihrer Diffusion umfassend geschärft werden. Während bisherige Globalisierungskonzepte in den Altertumswissenschaften einzig die Expansion des Römischen Reiches bzw. das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie unter politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gesichtspunkten berücksichtigen, fehlt es bislang an Untersuchungen zur Abwicklung des Reiches ab dem ausgehenden 5. Jahrhundert bzw. zu der in diesen Zeitraum zu verortenden Literaturproduktion(en). Mit dem Konzept der „dezentralen Globalität“ soll diese entscheidende historische Übergangsphase, die sich allen voran in der Literatur manifestiert, eine neue Würdigung und analytische Betrachtung erfahren.
Programm
Donnerstag, 20. April 2023
14.00 Ulrich Eigler (Zürich) und Gernot Michael Müller (Bonn):
Begrüßung und Einführung
Sektion I: Zeitgenössische Reflexionen über Regionalität und Globalität
15.00 Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich):
Regionale Kirche im globalen Horizont: Isidors De uiris illustribus in der biobliographischen Tradition
16.00 Kaffeepause
16.30 Stefan Esders (Berlin):
Zwischen 'Personalität' und 'Territorialität': Das Recht in den westlichen Reichen im 7. Jahrhundert
17.30 Susanna Fischer (München):
Die Entwicklung geographisch-topographischer Schriften vom 6. bis zum 8. Jahrhundert
Freitag, 21. April 2023
Sektion II: Identitäts- und Sinnstiftung in globalen Kontexten
9.00 Walther Pohl (Wien):
Identitätsmuster in der lateinischen Historiographie, 6.-8. Jahrhundert
10.00 Raphael Schwitter (Zürich/Bonn):
Im Dazwischen? Zur Denkfigur des Liminalen am Beispiel der Krisennarrative bei Gregor dem Großen und in der „späten Spätantike“
11:00 Kaffeepause
11.30 Els Rose (Utrecht):
Orbis terrarum: Medieval Approaches to a Global Concept
12.30 Gordon Blennemann (Montreal):
Universalismus und Partikularismus in der gallischen Hagiographie des späten 5. und 6. Jahrhunderts
13:30 Mittagspause
Sektion III: Lateinische Sprache, Schrift und Schreibtechniken als globales Phänomen
15.00 Tino Licht (Heidelberg):
Die Frühzeit der Halbunziale und die Lateinische Literatur des 6. Jahrhunderts in Italien
16.00 Maria Selig (Regensburg):
Diglossie, Re-Standardisierung oder Bilinguismus? Die sprachliche Situation im Lateineuropa des 6.-8. Jh. im Lichte sprachsoziologischer Konzepte
17:00 Kaffeepause
17.30 Sebastian Scholz (Zürich): Inschriften im frühen Mittelalter: Sprache - Inhalt – Entwicklung
18:30 Anneli Luhtala (Helsinki): In Search of Tools of Prose Composition in the Early Middle Ages
Samstag, 22. April 2023
Sektion IV: Transformation(en) und Diffusion von lateinischer Literatur
9.00 Michael Allen (Chicago): Writing For Survival: The Classics and the Caroline Graphic Revolution
10.00 Andreas Fischer (Erlangen): Reflektierte Globalität: Texte und Kommunikation zwischen Gallien und Italien im 7. Jahrhundert
11:00 Kaffeepause
11.30 William Klingshirn (Washington, DC): Latin Literatures of Diagnosis, Prognosis, and Healing: Translation, Adaptation, and Exchange
12.30 Abschlussdiskussion und Zusammenfassung