Geschichte der Bonner Klassischen Philologie

Das Philologische Seminar wurde 1819 kurz nach Gründung der Universität als ihr erstes Seminar eingerichtet. Dies war Ausdruck des hohen Ansehens der Philologie in dieser Zeit, an deren Methoden sich zahlreiche andere Geisteswissenschaften orientierten. Aufgabe des Seminars war zum einen die qualitative Verbesserung der Lehrerausbildung im Zuge der programmatischen Reform des Schulwesens in Preußen. Zum anderen wies das Humboldt’sche Bildungsideal der Philosophischen Fakultät im Allgemeinen und der Klassischen Philologie im Besondern einen fundamentalen propädeutischen Auftrag zu. Nach Friedrich Schleiermacher konnte gar erst die Philosophische Fakultät die Wissenschaftlichkeit der anderen Disziplinen garantieren. In diesem (neu)-humanistischen Geist waren die drei sogenannten „Reformuniversitäten“ Berlin (1810), Breslau (1811) und Bonn (1818) gegründet worden. Dementsprechend stand auch das Philologische Seminar an der Spitze der Philosophischen Fakultät.

Der Anfang

Als erste Professoren wurden Karl Friedrich Heinrich (1774–1838) für lateinische und August Ferdinand Naeke (1788–1838) für griechische Philologie berufen. Beide legten den Schwerpunkt auf eine gründliche sprachliche Ausbildung der Seminaristen; sie können als Vertreter der damals sehr populären Wortphilologie gelten, die in einem großen Vertrauen auf Textkritik und Stilistik die antiken Texte hauptsächlich aus sich selbst heraus zu verstehen suchte.

Demgegenüber betonte Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868) bereits die Notwendigkeit, im Studium auch andere Wissenschaften wie die Archäologie, Epigraphik, Kunstgeschichte oder Geschichtswissenschaft zum umfassenden Verständnis der Antike heranzuziehen. Seine dreibändige Griechische Götterlehre ist beredtes Zeugnis einer solchen Transdisziplinarität.

Welcker hatte 1819 einen Ruf als persönlicher Ordinarius für Philologie und Archäologie erhalten und wurde Direktor der Universitätsbibliothek sowie Leiter des Akademischen Kunstmuseums, für das er zahlreiche Gipsabgüsse antiker Plastiken anschaffen ließ. Er formulierte den Studienplan des Philologischen Seminars, der das starke Selbstbewusstsein der Philologie des 19. Jahrhundert widerspiegelt. Das Studium der Klassischen Philologie wurde „zum Zwecke der allgemeinen Geistesbildung begriffen“ –  sie galt als Grundlage „des gesamten gesellschaftlichen Zustandes, im Vaterlande und in anderen Ländern Europa’s“ (1).

Die Beherrschung der lateinischen Sprache war in der Tat nicht nur für angehende Lateinlehrer unerlässlich, sondern für alle akademischen Laufbahnen, da ein Großteil der universitären Festakte und sogar einige Seminare und Prüfungen anderer Fakultäten in lateinischer Sprache abgehalten wurden. Auch wissenschaftliche Publikationen erfolgten gerade dann auf Latein, wenn sie internationale Beachtung finden sollten.

(1) Vgl. Koch, Die Preussischen Universitäten, 252f.
Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868)
© Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868); gemeinfrei
Eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler arbeiten hinter einer Glasfassade und mischen Chemikalien mit Großgeräten.
© Friedrich Ritschl (1806-1876); gemeinfrei

Welcker und Ritschl und der Beginn der „Bonner Schule“

1838 starben Heinrich und Naeke, die Leitung des Seminars ging auf Welcker über. Als Nachfolger Naekes und Co-Direktor des Seminars wurde Friedrich Ritschl (1806–1876) berufen, wie Naeke ein Schüler des Leipziger Professors Gottfried Hermann (1772–1848) (2). Als Verfechter der strengen Wortphilologie erwarb er sich große Verdienste im Bereich der Textkritik und der Erforschung des Altlateins; zu Plautus publizierte er zahlreiche Beiträge und edierte dessen Komödien. Obwohl seine Bevorzugung der grammatisch-textkritischen Methode zu persönlichen Spannungen mit Welcker führte, profitierte die Bonner Philologie außerordentlich von den komplementären Stärken der einerseits philologisch exakten und andererseits umfassenden kulturhistorischen Ausbildung. Diese sogenannte „Bonner Schule“, die deutschlandweit einen glänzenden Ruf genoss, blieb dabei vor allem mit dem Namen Ritschls verbunden, auch wenn der 1855 als prospektiver Nachfolger Welckers berufene Otto Jahn (1813–1869) ebenfalls über exzellente archäologische und philologische Kenntnisse verfügte (3).

Als Gelehrte gingen unter anderem folgende Alumni aus dieser fruchtbaren Periode hervor: Georg Curtius (1820–1885), Jacob Bernays (1824–1881), Otto Ribbeck (1827–1898), Johannes Vahlen (1830–1911), Hermann Usener (1834–1905), Franz Bücheler (1837–1907), Wolfgang Helbig (1839–1915), Friedrich Blass (1843–1907) und Friedrich Nietzsche (1844–1900).


Zu Ritschls zahlreichen Verdiensten zählt auch die Neuherausgabe des Rheinischen Museums für Philologie. Diese älteste, heute noch erscheinende Fachzeitschrift der Altertumswissenschaften war 1827 unter anderem von dem Bonner Althistoriker Barthold Georg Niebuhr gegründet worden, nach einer Unterbrechung war die Herausgabe von Naeke und Welcker übernommen worden. Nach einer weiteren Unterbrechung führte Ritschl gemeinsam mit Welcker die Zeitschrift ab 1842 als Neue Folge fort und blieb bis zu seinem Tod ihr Herausgeber. Die Herausgabe verblieb bis 1984 stets in den Händen von Bonner Professoren.

(2) Gottfried Hermann beschrieb die nach ihm benannte Hermannsche Brücke: Im Hexameter ist nach der ersten Kürze des vierten Metrums ein Wortende unzulässig (G. Hermann: De metris poetarum Graecorum et Romanorum, Leipzig 1796, S. 273).
(3) Die Breite seiner Interessen zeigt sich unter anderem in seiner monumentalen Mozartbiographie.

Ein Stück Abteilungsgeschichte:
Der Bonner „Philologenkrieg“ von 1865

Im Jahre 1865 nahmen am Philologischen Seminar Dinge ihren Lauf, die in einem Konflikt mit politischer Dimension endeten und unter der pathetischen Bezeichnung „Bonner Philologenkrieg“ in die Geschichte eingegangen sind. Der Streit brach zwischen Friedrich Ritschl und Otto Jahn aus und endete mit Ritschls Weggang.

Ritschl hatte Jahns Berufung auf eine dritte Professur gefördert, um künftig Ersatz für den alternden Welcker zu erhalten, ohne diesen aber in diesen Vorgang einzubinden oder zu informieren. In diesem kühlen Klima bemühte sich Jahn um Neutralität und eine vermittelnde Position, was ihm wiederum Ritschl übelnahm.

Nach Welckers Tod leiteten beide zusammen das Seminar. Als nun Ritschl immer häufiger erkrankte und infolgedessen mehr Lehrverpflichtungen auf Jahn abwälzte, bemühte sich dieser 1864 – aus den gleichen Gründen wie Ritschl einige Jahre zuvor – um die Berufung Hermann Sauppes aus Göttingen, eines ausgezeichneten Gräzisten. 1865 erhielt dieser den Ruf, blieb aber überraschenderweise nach erfolgreichen Bleibeverhandlungen in Göttingen: Jahn war erfolglos, Ritschl erfuhr erst jetzt von der Sache und war höchst verärgert.

Dieser institutsinterne Streit eskalierte zunehmend -  auch Ritschls ehemaliger Schüler, der seit kurzem an der Bonner Universität habilitierte Privatdozent Johann Theodor Merz, beteiligte sich nun auf Seiten seines akademischen Lehrers. Beleidigungen und öffentliche Stellungsnahmen mit Anschuldigungen bestimmten nun den Streit, was schließlich auch den Preußischen Landtag auf den Plan rief und den gesamten „Philologenkrieg“ zu einem Politikum werden ließ. Ritschl reichte letztlich sein Entlassungsgesuch ein, was die Universität jedoch ablehnte. Erst Otto von Bismarcks Eingreifen konnte die Situation in Bonn entschärfen: Er sorgte für die Freistellung Ritschls, sodass dieser einen Ruf an die Universität Leipzig annehmen konnte. Jahn blieb bis zu seinem Tode 1869 Professor, litt aber an den Folgen des Streits und fühlte sich innerhalb der Fakultät isoliert. Das Ende des „Bonner Philologenkriegs“, in dem auch zahlreiche andere Privatfehden ausgetragen worden waren, und der Weggang des namhaften Philologen Ritschl, markierten zwar nicht das Ende der „Bonner Philologenschule“ (4), der Ruf des Seminars jedoch war beschädigt und die interne Stimmung miserabel.


(4) So noch W. Brambach: Das Ende der Bonner Philologenschule, Köln 1865.



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© Otto Jahn, 1857; gemeinfrei

Eine neue Blüte

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© Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. Trewendt, Breslau, 1857; gemeinfrei

Die Bonner Philologe erholte sich jedoch schnell von den Wirren: 1866 wurde Jacob Bernays, als erster jüdischer Gelehrter in Preußen für eine Geisteswissenschaft, zum außerordentlichen Professor und Bibliotheksdirektor ernannt. Seine Grundzüge der verlorenen Abhandlungen des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie (1857) entfalteten eine unter anderem von Siegmund Freud und Nietzsche rezipierte, aber nicht unumstrittene Interpretation der aristotelischen Katharsis-Lehre. Auf die ordentlichen Professuren wurden 1866 Hermann Usener (1834–1905) und 1870, nach dem Tode Jahns, Franz Bücheler (1837–1908) berufen. Als Bonner Studenten waren beide begeisterte Schüler Ritschls und enge Freunde geworden; Bücheler hatte 1854 den „Bonner Kreis“ gegründet, dem Freunde der Philologie aus allen Fakultäten angehörten. (5) Unter der freundschaftlichen Führung dieser beiden „Bonner Dioskuren“ (6) erreichte die Philologie eine neue, nach Wilamowitz sogar erst ihre „volle Blütezeit“ (7) und zog Studenten aus zahlreichen Ländern außerhalb Preußens und Deutschlands an. Useners Tätigkeit erstreckte sich neben der Edition von Scholien zu Lucan und den Fragmenten Epikurs auf zahlreiche Gebiete der Altertumswissenschaften; er arbeitete zu griechischer Metrik und Philosophie, zur Papyrologie und tat sich insbesondere in der vergleichenden Religionsgeschichte hervor. Bücheler edierte Petrons Satyricon und seine Ausgabe der Carmina Latina Epigraphica wird bis heute verwendet. Daneben forschte er zum Oskisch-Umbrischen und war zudem einer der Mitbegründer des Thesaurus Linguae Latinae.


(5) Dieser wurde 1939 aufgelöst und 1950 von alten Mitgliedern neu gegründet, vgl. E. Vogt: Die Wiederbegründung des Bonner Kreises nach Ende des 2. Weltkriegs, in: E. Lambertz (Hg.): Ernst Vogt – Literatur der Antike und Philologie der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, Berlin/Boston 2013, 553-562.
(6) Diese später oft gebrauchte Bezeichnung scheint wohl zum ersten Mal in einem Brief von Hermann Diels (1848-1922) an Usener vom 6.3.1881 verwendet zu werden: „Verehrter Herr Professor, die Feier, die, etwas früh aber gewis allseitig herzlich begrüßt, Franz Bücheler gestern veranstaltet worden ist, hat wie gewis Viele so auch mich an den zweiten Bonner Dioskuren lebhaft erinnert und mich veranlaßt Ihnen den schon lange geschuldeten Brief zu schicken.“ Zitiert nach: D. Ehlers (Hg.): Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel, 1. Bd., Berlin 1992, 234.
(7) U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. Mit einem Nachwort und Register von Albert Henrichs, 3. Auflage, Nachdruck der Erstauflage von 1921, Stuttgart/Leipzig 1998, 61.
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© Hermann Usener: Götternamen: Versuch einer Lehre von der Religiösen Begriffsbildung. Bonn 1896; gemeinfrei
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© Franz Bücheler: Carmina Latina Epigraphica, Leipzig 1895-1897; gemeinfrei

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© Hermann Usener (1834-1905); gemeinfrei

Nach Ritschls Tod übernahmen beide die Herausgeberschaft des Rheinischen Museums. Sie reformierten die Strukturen des Seminars, um auf nachlassende Lateinkenntnisse der Studierenden zu reagieren: Ein Proseminar für Studienanfänger wurde eingerichtet und eine Assistenz zur Leitung der Bibliothek und Stilkurse eingerichtet.

Die „Dioskuren“ zogen zahlreiche Schüler an, unter denen besonders hervorzuheben sind: Hermann Diels (1848–1922), Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), Friedrich Leo (1851-1914), Aby Warburg (1866–1929), Ludwig Radermacher (1867–1952), Eduard Norden (1868-1941), Hans Lietzmann (1875–1942), Rudolf Borchardt (1877–1945) und Paul Friedländer (1882–1968).

Die Nachfolger Useners und Büchelers wurden ihre Schüler August Brinkmann (1863–1923), der sich vor allem der Lehre widmete, und Friedrich Marx (1859–1941), ein produktiver Texteditor. Von ihm stammen unter anderem Ausgaben der Rhetorica ad Herennium und von Plautus’ Rudens.

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© Franz Bücheler (1837-1908); gemeinfrei

1927 wurde mit Max Siebourg (1863–1936) der erste Honorarprofessor für die Didaktik der Alten Sprachen berufen. Bis dahin waren angehende Lehrer ausschließlich fachlich ausgebildet worden. Obwohl er – auch wegen seiner bald erfolgten Pensionierung 1931 – eine geringe Außenwirkung entfaltete, darf er wohl doch als erster universitärer Fachdidaktiker der Alten Sprachen gelten. Der 1926 berufene Christian Jensen (1883–1940) widmete sich der Papyrologie: Er gab einen neuentdeckten Papyrus heraus, der vollständige Reden des bis dahin nur aus wenigen Fragmenten bekannten attischen Redners Hypereides enthielt. Sein Kollege Ernst Bickel (1876–1961) sah sich der Tradition Ritschls verpflichtet: Er verfasste eine ausführliche Geschichte der römischen Literatur und widmete sich der Herausgabe des Rheinischen Museums, das er nach der kriegsbedingten Einstellung 1950 neu gründete und dabei an die alte Zählung anschloss.

Zeit des Nationalsozialismus

Wie die Mehrheit der Bonner Universitätsangehörigen verhielten sich auch die Vertreter der Klassischen Philologie dem nationalsozialistischen System gegenüber loyal, in mehr oder weniger engagierter Weise. Christian Jensen trat nicht in Erscheinung, konnte aber zumindest 1937 nach Berlin berufen werden.

Ernst Bickels wissenschaftliches Schrifttum ist zwar wie das seines Kollegen Hans Herter (1899–1984, Berufung: 1938) frei von nationalsozialistischem Gedankengut; jedoch waren beide der nationalsozialistisch besetzten Universitätsleitung gegenüber loyal genug, um mit Leitungsaufgaben betraut zu werden: Herter, der auch Mitglied der SA, des NS-Lehrerbundes, der NSDAP und des NS-Dozentenbundes war und wohl als Vertrauter des regimetreuen Rektors Karl F. Chudoba bezeichnet werden muss, war 1941/42 und 1942/43 Dekan der Philosophischen Fakultät und 1942–1944/45 sogar Prorektor; Bickel amtierte 1943/44 ebenfalls als Dekan.

Erholung in der Nachkriegszeit und die Entstehung der Fachdidaktik

Die Nachkriegszeit oszillierte zwischen Kontinuität und Neuaufbruch. Einerseits behielten sowohl Bickel als auch Herter ihre Lehrstühle. Bickel wurde dann 1948 emeritiert, übernahm jedoch den Ehrentitel des professor eloquentiae an, die er bis 1960 innehatte. In dieser Funktion war er für die lateinische Ausformulierung der universitären Schreiben zu Festanlässen zuständig. Herter forschte bis zu seiner Emeritierung 1967 unter anderem zu Thukydides und Platon und verfasste eine religionsgeschichtliche Studie zum Gott Priapos. Er setzte sich für Kontinuität in der Forschungsausrichtung ein und gab bis zu seinem Tode das Rheinische Museum heraus. Dieses ging dann in die Hände seines Schülers Carl Werner Müllers über und wechselte damit nach gut 150 Jahren von Bonn nach Saarbrücken. 1950 kam mit Wolfgang Schmid (1913–1980) wieder ein Vertreter der Editionsphilologie nach Bonn. Er hat sich vor allem um die epikureische Papyrusforschung und frühchristliche Texte verdient gemacht.

Der ebenfalls 1950 berufene Wilamowitz-Schüler Walther Kranz (1884–1960) war unter anderem Direktor der Landesschule Pforta und Honorarprofessor für Fachdidaktik der Alten Sprachen in Halle gewesen; unter der Nazi-Herrschaft hatte er Deutschland wegen seiner jüdischen Frau nach Istanbul verlassen müssen und dort den Lehrstuhl für Klassische Philologie übernommen. In Bonn wirkte er bis zu seiner Emeritierung 1955 als Honorarprofessor für „Didaktik der alten Sprachen und Fortwirken der Antike“. Er gab die Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels heraus und erreichte mit seinen gut lesbaren Büchern zur griechischen Kultur und Philosophie auch ein breiteres Publikum außerhalb der Universität.

Ebenfalls Didaktiker, aber weniger dem humanistischen Bildungskanon verpflichtet war der Bonner Alumnus Theodor Litt (1880–1962); er war 1904 mit einer Arbeit über die Fasti der römischen Gelehrten M. Verrius Flaccus und Cornelius Labeo in Bonn promoviert worden. Als Lehrer hat er praktische Erfahrung gesammelt, in Leipzig ist er Professor und Rektor geworden, dann aber aufgrund seiner Ablehnung des NS-Regimes entlassen worden. Nach dem Krieg sollte er die demokratische Reform der Universität Leipzig vorantreiben, geriet aber in Konflikt mit der neugegründeten SED. Daher nahm er 1947 einen Ruf an die Universität Bonn an. Hier wurde er Professor für Pädagogik und Philosophie und gründete er das Institut für Erziehungswissenschaften.

Unter den Gelehrten, die in den 60er Jahren nur kurz in Bonn wirkten, ragen besonders zwei Namen hervor: Ernst Vogt (1930–2017), der langjährige Leiter des Thesaurus Linguae Latinae, und Christian Gnilka (*1936), der sich in zahlreichen bedeutsamen Arbeiten vor allem zu den Texten der Patristik hervorgetan hat. Ebenso ist noch Georg Luck (1926–2013) zu nennen, der zwischen 1962 und 1971 zum ordentlichen Professor in Bonn berufen wurde, ehe er zur Johns Hopkins University wechselte. Die Nachfolge übernahm Willy Schetter (1928–1992), der sich 1964 in Bonn mit der Schrift „Studien zur Überlieferung und Kritik des Elegikers Maximian“ habilitierte.

1965 konnte das Mittellateinische Seminar gegründet werden, dessen Professor Dieter Schaller (1929–2003) wurde. Nach seiner Emeritierung erfolgte die Eingliederung des Seminars in die Abteilung für griechische und lateinische Philologie, in der es bis heute einen eigenen Lehrstuhl besitzt.

1968 nahm der Gräzist Hartmut Erbse (1915–2004) einen Ruf nach Bonn an. Er leitete viele Jahre die Herausgabe des Lexikon des frühgriechischen Epos (LfgrE) und forschte intensiv zu Herodot und Homer; bekannt sind seine Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos. Sein Hauptwerk war die Herausgabe der Ilias-Scholien in sieben Bänden.

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© Fragmente der Vorsokratiker; eigene Aufnahme

Byzantinistik in Bonn

Die griechischen Texte der byzantinischen Zeit (395–1453) haben seit der Gründung der Universität immer wieder das Interesse von Bonner Gelehrten geweckt. Als erster hatte der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) das später als „Bonner Corpus“ bekannte Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae angeregt und geleitet. Der 1840 zur Unterstützung Welckers und Ritschls zum Extraordinarius ernannte Ludwig Schopen (1799–1867) hat sich als erster Bonner Philologe eingehender mit der Byzantinistik beschäftigt. Diese erhielt 1973 eine eigene Abteilung innerhalb des Instituts für klassische und romanische Philologie und fand in Erich Trapp (*1942) von 1973–2008 einen renommierten Vertreter, dessen bleibender Verdienst das Lexikon zur byzantinischen Gräzität darstellt. (8) Leider wurde die Abteilung für Byzantinistik nach seiner Emeritierung geschlossen.


(8) Das Lexikon wurde 2017 mit dem 8. Faszikel abgeschlossen. Es widmet sich insbesondere der Gräzität des 9.-12. Jahrhunderts und stellt damit ein Bindeglied zwischen den Wörterbüchern zum Klassischen Griechisch von Lidell-Scott-Jones, der Patristik (Lampe: A Patristic Greek Lexicon) und dem volkssprachlichen Wörterbuch des Mittelalters dar (Kiaras: Lexicon of Medieval Greek Demotic Literature 1100-1669).
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© Lexikon zur byzantinischen Gräzität; eigene Aufnahme

Jüngere Geschichte

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© Otto Zwierlein (ed.): Seneca, Tragoediae; eigene Aufnahme

Nach Hartmut Erbse hatte die Gräzistik drei Vertreter in Bonn: Ebenfalls am Lexikon des frühgriechischen Epos arbeitete Heinz Neitzel (*1938), der von 1977 bis 2002 in Bonn als Professor Arbeiten insbesondere zu Homer, Hesiod und Aischylos vorgelegt hat. Heinz Gerd Ingenkamp (*1938) forschte und lehrte lange Jahre in Bonn, als Professor von 1980 bis zu seiner Emeritierung 2004. Seine Forschungsschwerpunkte lagen auf Plutarch und der Antikenrezeption in der Neuzeit. Adolf Köhnkens (1938–2017) Interessen betrafen das Gebiet der archaischen und hellenistischen Dichtung; im Anschluss an seine Tätigkeit in Bonn (seit 1969) nahm er 1992 einen Ruf an die Universität Münster an, wo er bis zu seiner Emeritierung wirkte. Seit 2003 hat Thomas A. Schmitz (*1963) den Lehrstuhl für Gräzistik inne. Er widmet sich intensiv der Verbindung von moderner Literaturtheorie und der Interpretation antiker Texte; darüber hinaus forscht er zu Pindar, der zweiten Sophistik und der Rezeption griechischer Texte in der Neuzeit.

Die Nachfolge Wolfgang Schmids auf dem Lehrstuhl für Latinistik trat 1979 Otto Zwierlein (*1939) an. Er hat sich besonders um die römische Komödie, überlieferungsgeschichtliche und textkritische Fragen verdient gemacht; seine Edition von Senecas Tragödien benutzen heutige Studierende wie Forschende.

Nachfolger von Dieter Schaller auf dem Lehrstuhl für Mittel- und Neulateinische Philologie ist seit 1997 Marc Laureys (*1963). Er ist Mitbegründer und Sprecher des 2005 ins Leben gerufenen Centre for the Classical Tradition und widmet sich in diesem Rahmen der Wirkung der griechisch-römischen Antike, insbesondere der Rezeption römischer Autoren, in Mittelalter und Neuzeit. Schwerpunktmäßig erforscht er die lateinische Literatur des Renaissancehumanismus, insbesondere in Italien und in den alten Niederlanden, sowie die lateinische Historiographie und die antiquarischen Studien in Mittelalter und Renaissance.

Nach seiner Emeritierung wurde die Latinistik in Bonn von 2005 bis 2019 von Dorothe Gall (1953–2023) vertreten. Sie widmete sich unter anderem der Literatur der Renaissance und der Augusteischen Dichtung, insbesondere Horaz. Seit 2019 vertritt Gernot Michael Müller (*1970) die Latinistik in Bonn. Er erforscht den Dialog, die römische Philosophie und Epistolographie unter kultur-, literatur- und philosophiegeschichtlichen Aspekten. Darüber hinaus gehören auch die frühchristliche Literatur sowie die Wirkungsgeschichte antiker Texte in der Neuzeit zu seinen Forschungsgebieten.

Die Abteilung für Griechische und Lateinische Literatur widmet sich heute in Bonner philologischer Tradition neben der gründlichen Sprachausbildung der ganzen Breite philologischer Interpretation und Rezeption. Dabei finden zunehmend auch interdisziplinäre, d.h. kulturwissenschaftliche und literaturtheoretische Fragestellungen Beachtung. Die Vermittlung der Inhalte in der Schule wird dabei von der Fachdidaktik wie der Fachwissenschaft gleichermaßen reflektiert. Mit einem breit aufgestellten Team gewährleistet die Abteilung eine exzellente Betreuung ihrer Studierenden und eine ebenso breite wie intensive Forschungstätigkeit.

Von Melchior Klassen,
überarbeitet von Tristan Spillmann

Bibliographie

  • U. Baumann/C. Wich-Reif: Die Philosophische Fakultät, in: T. Becker/P. Rosin (Hg.): Geschichte der Universität Bonn, Band 3: Die Buchwissenschaften, Bonn 2018, 473-586.
  • W. Brambach: Das Ende der Bonner Philologenschule, Köln 1865.
  • D. Gall/K. A. Neuhausen/T. A. Schmitz: Klassische Philologie, in: T. Becker/P. Rosin (Hg.): Geschichte der Universität Bonn, Bd. 3: Die Buchwissenschaften, Bonn 2018, 586-594.
  • D. Gall: Jacob Bernays - der erste jüdische Professor an der Universität Bonn, in: Fohrmann, Jürgen: Chronik des Akademischen Jahres 2011/2012, Bonn 2012, 226-243.
  • D. Ehlers. (Hg.): Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel, 1. Bd., Berlin 1992
  • D. Geppert (Hg.): Geschichte der Universität Bonn, Band 2: Forschung und Lehre im Westen Deutschlands 1918-2018, Bonn 2018
  • D. Geppert (Hg.): Geschichte der Universität Bonn, Band 1: Preußens Rhein-Universität 1818-1918, Bonn 2018
  • R. Ißler/R. Kaenders/S. Stomporowski (Hg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung weiterdenken, Göttingen 2022
  • J. F. W. Koch (Hg.): Die Preussischen Universitäten. Eine Sammlung der Verordnungen welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen, 2. Bd., 1. Abteilung: von dem Rektor und Senat, den Professuren und Fakultäten, der akademischen Gerichtsbarkeit, von den Vorlesungen, den Preisaufgaben, den Beamten, den Studierenden, Berlin/Posen/Bromberg 1840.
  • E. Könsgen (Hg.): Arbor amoena comis. 25 Jahre Mittellateinisches Semianr in Bonn 1965-1990, Stuttgart 1990.
  • C. W. Müller: Das Rheinische Museum für Philologie 1842–2007. Zum Erscheinen des 150. Bandes der Neuen Folge, RhM 150 (2007), 1–7.
  • C. W. Müller: Otto Jahn, in: Ders.: Nachlese. Kleine Schriften 2, Berlin 2009, 142-163.
  • E. Vogt: Die Wiederbegründung des Bonner Kreises nach Ende des 2. Weltkriegs, in: E. Lambertz(Hg.): Ernst Vogt – Literatur der Antike und Philologie der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, Berlin/Boston 2013, 553-562.
  • E. Vogt: Hans Herter, in: Gnomon 60 (1988), 473-479.
  • U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. Mit einem Nachwort und Register von Albert Henrichs, 3. Auflage, Nachdruck der Erstauflage von 1921, Stuttgart/Leipzig 1998, 61.
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